Einführung in die Funktionentheorie
(08 00160, M-FTH-1, Sommersemester 2018)
Allgemeine Informationen
Viele Probleme und Fragestellungen aus der Mathematik
und der Physik aber auch den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften vereinfachen sich auf
magische Weise sobald man diese aus der Perspektive der Funktionentheorie
mithilfe komplexer Zahlen behandelt.
Wir illustrieren dies an vier einfachen Beispielen.
Funktionentheorie hilft die wichtigsten Funktionen
der Mathematik zu verstehen
Trigonometrische Formeln wie das Additionstheorem sin(x+y)=sin(x)
cos(y)+sin(y) cos(x) des Sinus lassen sich rein reell nur umständlich
beweisen und lassen sich insbesondere nur beschwerlich merken. Benutzt man aber die Exponentialfunktion im
Komplexen, so ergeben sich diese und andere trigonometrische Formeln in
äußerst einfacher Weise aus der simplen Funktionalgleichung
exp(z+w)=exp(z) exp(w) der Exponentialfunktion für komplexe Zahlen.
Aber nur im Komplexen ist der innere Zusammenhang
der trigonometrischen Funktionen und der Exponentialfunktion sichtbar.
In ähnlicher, aber subtilerer Weise geben auch viele andere
grundlegende Funktionen der Mathematik und Physik ihre Geheimnisse erst dann preis, wenn man sie als Funktionen von
komplexen Veränderlichen auffasst. Beispielsweise ist die wohl
berühmteste Vermutung der Mathematik, die Riemannsche Vermutung, eine
Vermutung über die Nullstellen einer komplexen Funktion, der
Riemannschen Zetafunktion. Aber auch viele der speziellen Funktionen der
Mathematischen Physik, wie z.B. die Besselfunktionen, welche bei der
quantenmechanischen Behandlung
des Wasserstoffatoms in Erscheinung treten, lassen sich erst im Komplexen
befriedigend behandeln.
Konvergenzradien von Taylorreihen und die Riemannsche Zetafunktion
Im Reellen besteht zwischen dem
Verhalten einer beliebig oft reell differenzierbaren Funktion und der
Größe der Konvergenzintervalle ihrer Taylorreihen kein
erkennbarer
Zusammenhang. So ist die Funktion 1/(1+x²) beliebig oft auf ℝ
differenzierbar, jedoch konvergiert Ihre Taylorreihe mit Entwicklungspunkt
0 lediglich im Interval (-1,1). Warum ist dies so? Im Reellen gibt es keinen
einleuchtenden Grund für dieses Verhalten. Im Komplexen jedoch liegt die
Sache anders und wir werden in der Vorlesung
eine allgemeine Methode kennenlernen, die
es in vielen Fällen erlaubt, den Konvergenzradius einer Potenzreihe
vollkommen ohne Rechnung, sondern lediglich durch "Hinschauen" zu bestimmen.
Ebenso lassen sich die Koeffizienten einer komplexen Potenzreihe oft aus der
sie darstellenden komplexen Funktion bestimmen. In der Vorlesung werden wir
auf diese Weise die Werte der Riemannschen Zetafunktion
in den geraden natürlichen Zahlen bestimmen:
oder allgemein mithilfe der Bernoulli-Zahlen
Nullstellen von Polynomen und Anwendungen in der Astrophysik
Der Fundamentalsatz der Algebra besagt, dass sich reelle Polynome mithilfe reeller Polynome vom
Grad 1 oder 2 faktorisieren lassen. Mit rein reellen Methoden ist der
Beweis dieser Aussage nicht einfach. Wir werden in der Vorlesung mehrere
funktionentheoretische "Ein-Zeilen-Beweise" kennenlernen, die eine
völlig natürliche Erklärung für den Fundamentalsatz
der Algebra geben. Tatsächlich ist der Fundamentalsatz der Algebra im
Wesentlichen ein Spezialfall des Satzes von Liouville, eines
wichtigen Satzes der Funktionentheorie. Der Satz von Liouville besitzt
vielfätige Anwendungen u.a. in der Funktionalanalysis und der
Mathematischen Physik für die Spektraltheorie von Operatoren auf
unendlich dimensionalen Vektorräumen. Eine andere Verallgemeinerung
des Fundamentalsatzes der Algebra befasst sich mit den Nullstellen
sog. harmonischer Polynome. Diese stellt einen engen Bezug zu dem durch die Allgemeine
Relativitätstheorie vorhergesagten Gravitationslinsenseffekt
in der Astrophysik her, der seit einigen Jahren intensiv beforscht wird, siehe
Link.
Berechnung bestimmter Integrale und die Jordansche Normalform
Wie berechnet man bestimmte Integrale
falls die Funktion keine explizit bekannte Stammfunktion besitzt?
Hier laufen rein reelle Überlegungen oft ins Leere.
Methoden der Funktionentheorie erlauben hingegen eine erstaunlich einfache
Berechnung bestimmter Integrale ohne dass hierfür eine
Stammfunktion des Integranden bekannt sein müsste!
Als Beispiele berechnen wir u.a. die Fresnelschen Integrale
Diese spielen in der Theorie der Lichtbrechung und bei der Behandlung von
Pfadintegralen in der Quantenmechanik eine wichtige Rolle.
Die Methode zur funktionentheoretischen Behandlung reeller Integrale beruhen
alle auf einem zentralen Satz der Funktionentheorie, dem Residuensatz.
Dieser besitzt weitere interessante Anwendungen wie
z.B. einen wirklich einfachen Beweis für die Jordansche Normalform
komplexer Matrizen, der sich zudem so verallgemeinern lässt, dass man
damit auch eine entsprechende "Spektralzerlegung" für viele stetige lineare
Abbildungen auf unendlich dimensionalen Banachräumen erhalten kann.